
„Live in Stuttgart 1975“
SPOON RECORDS/ ROUGH TRADE
Weltweit braucht man Kennern innovativer Rockmusik nicht zu erklären, wie wichtig der Einfluss dieser Band ist, die bis heute mit ihrem unnachahmlichen Stil junge Generationen von Musikern und Hörern inspiriert. Bereits zu Beginn der 1970er Jahre wurden Can auch einem breiteren Publikum in Deutschland bekannt mit ihrer Musik für prominente Film- und Fernsehproduktionen. Ihre Single „Spoon“, Titelmusik zum Erfolgs-TV-Krimi „Das Messer“ nach Francis Durbridge, hielt sich über Monate auf den oberen Plätzen der deutschen Singles-Charts. Gleichzeitig waren Can eine ausgesprochene Avantgarde-Rockband, die Inspiration aus so unterschiedlichen Quellen wie The Velvet Underground oder Karlheinz Stockhausen schöpfte und dabei ebenso Rhythmen und Texturen orientalischer und asiatischer Musik in ihre Musik einbezog. Ihr Sound klang eigentlich nie deutsch oder nach „Krautrock“, sondern stets eigen und international. Mit Alben wie „Tago Mago“, „Ege Bamyasi“ oder „Future Days“ schrieben Can weltweit Rockmusikgeschichte, ihre Livekonzerte wurden zur Legende. Komplette Konzertmitschnitte von Can waren jedoch offiziell nie erhältlich, denn die Musiker hatten bei einigen Ansätzen, ein Live-Album aufzunehmen stets Pech mit der Technik vor Ort. Erst ab Ende der 1990er Jahre kamen nacheinander eine Auswahl erhalten gebliebener Live-Stücke aus dem eigenen Archiv zur Veröffentlichung, die Can auf zwei rückblickenden Kompilationen und als Bonustracks auf einer CD-Wiederveröffentlichung von „Ege Bamyasi“ verwendeten.
Das nun vorliegende Album „Live in Stuttgart 1975“ ist daher eine Sensation für die zahlreichen Freunde der Band. Erstmals erscheint ein vollständiger Auftritt der Gruppe als Doppel-CD, Tripel-LP und im Digitalformat. Zur Wiederentdeckung und späteren Bearbeitung dieser Bänder kam es, als Can-Mitglied Irmin Schmidt und Andrew Hall, ein britischer Fan und methodischer Sammler der Musik der Gruppe, nach Jahrzehnten miteinander Kontakt aufnahmen, um Halls umfangreiche Tonband- und Kassettensammlung nach den besten Live-Aufnahmen zu durchkämmen. Von 1973 bis 1977 schnitt Andrew Hall in Eigeninitiative zahlreiche Tour-Konzerte von Can mit und lagerte die Bänder gut behütet in seinem Privatarchiv ein. Generell war das „Bootleggen“ von Konzerten verboten, aber der enthusiastische Hall gewann allmählich das Vertrauen der Band, sodass er sich mit seinem Tape Recorder offiziell im Konzertsaal positionieren durfte. Im Beiheft wird auch die Beziehung zwischen den Musikern und ihrem stets mit einem Tonbandgerät auftauchenden Fan anekdotenreich beschrieben. Das vorliegende Konzert aus Stuttgart wurde liebevoll mit modernster Technik restauriert und portraitiert die Band während eines abendfüllenden Höhenflugs mit ausschließlich improvisierter Musik. Die Stücke wurden aus diesem Grund nur mit den Zahlen „Eins“ bis „Fünf“ betitelt, enthalten aber auch Motive aus vertrauten Can-Kompositionen („Bel Air“, „Vitamin C“ und „Quantum Physics“), die im energetischen Fluss der Musik aufleuchten, um dann im Sog neu entstehender Songstrukturen und Verläufe wieder zu verschwinden. Bemerkenswert: das erfolgreiche und nur einen Monat zuvor erschienene Studio-Album „Landed“ wird bei diesem Auftritt vom Oktober 1975 mit keiner Referenz zitiert. Für heutige Marketinggewohnheiten in der Rock- und Popszene wäre das nahezu undenkbar. Was die musikalische Kraft, Spontaneität und den Sound von Can so nachhaltig faszinierend macht, ist die Harmonie und Substanz der kollektiven Improvisation, die stets melodisch, kompakt und ideenreich bleibt, angetrieben vom einzigartig hypnotischen Schlagzeugspiel Jaki Liebezeits und Holger Czukays kongenial dazu pulsierenden Bass. Nachdem der japanische Sänger Damo Suzuki bereits Ende 1973 die Band verlassen hatte, präsentierte sich das im weiteren mit Gitarrist Michael Karoli und Keyboarder Irmin Schmidt besetzte Kern-Quartett rein instrumental in Stuttgart. Von Beginn an wird der Hörer eingesaugt wie in einen schillernd ausufernden Trip, dessen magnetischer Bann erst nachlässt, wenn der letzte Ton nach 90 Minuten verklungen ist. Nur in der Gänze, so betrachtet es konsequenterweise Irmin Schmidt, lässt sich der individuelle Charakter eines einzelnen Can-Konzertes wirklich erleben.
Last not least noch eine weitere frohe Botschaft für alle Fans der legendären Formation: „Live in Stuttgart 1975“ bildet erst den Auftakt zu einer Reihe von kompletten Konzertmitschnitten, die das Can-eigene „Spoon“-Label aus dem Fundus von Andrew Hall zu veröffentlichen plant.
thiemo bruell