
„Phoenix“
WARNER CLASSICS
Mehr als 75 Jahre nach seiner Entstehung erscheint jetzt die erste Aufnahme des Violinkonzerts op. 70 des Komponisten, Pianisten und Dirigenten Ludomir Różycki, der am 18. September 1883 in Warschau geboren wurde. Różycki studierte am Warschauer Musikinstitut und an der Berliner Akademie der Künste – sein Kompositionsstudium dort schloss er 1904 mit einer Goldmedaille ab. Er war gerade 19, als er gemeinsam mit Karol Szymanowski, Grzegorz Fitelberg und Apolinary Szeluto die Gruppe Junger Polnischer Komponisten gründete, deren Ziel es war, die neue polnische Musik im Ausland zu fördern. Dorthin zog es ihn immer wieder. Von 1912 bis 1918 lebte er in Berlin, unternahm künstlerische Reisen vor allem in die Schweiz, nach Italien und Frankreich, kehrte 1918 nach Warschau zurück.
Ludomir Różycki hatte 1944 mit der Arbeit an dem Konzert begonnen, gerade als der Warschauer Aufstand begann, der nach zwei Monaten am 2. Oktober 1944 von der deutschen Wehrmacht blutig niedergeschlagen worden war. Różycki war gezwungen, die Stadt zu verlassen und die Arbeit am Konzert zu unterbrechen. Vor der Flucht vergrub seine Frau alle Papiere ihres Mannes im Garten ihrer Warschauer Villa. Als der Krieg schließlich zu Ende war und Warschau langsam wieder aufgebaut wurde, fanden Bauarbeiter genau dort, wo Różyckis Haus gestanden hatte, bevor es während der Kämpfe zerstört worden war, einen Koffer mit verschiedenen Noten und Manuskripten. Dass sie ihn nicht achtlos fortwarfen, sondern ihn schließlich in die Polnische Nationalbibliothek brachten, sicherte der polnischen Musikgeschichte ein schönes wie ungewöhnliches Konzert, dessen wirkliche Entdeckung allerdings noch auf sich warten ließ.
Hier nun kommt der Geiger Janusz Wawrowski in Spiel. Seinem speziellen Interesse für die Geschichte des Konzerts und seiner Beharrlichkeit ist es letztlich zu danken, dass das rudimentäre Ausgangsmaterial des Konzertes in einer Rekonstruktion des Konzerts aufging, die er gemeinsam mit dem Pianisten und Arrangeur Ryszard Bryła vornahm, nachdem es bereits zwei frühere Versuche einer Rekonstruktion gab, die dem Werk jedoch nicht gerecht wurden.
Nun also liegt das Violinkonzert op. 70 in einer Einspielung mit dem Royal Symphony Orchestra unter der Leitung von Grzegorz Nowak und mit Janusz Wawrowski als Solisten vor, gemeinsam mit dem so populären Violinkonzert Peter Tschaikowskis. Nicht nur von seiner Historie her ist Różyckis Konzert ein ungewöhnliches Werk, sondern auch von seinem Aufbau, der auf zwei Sätze beschränkt ist. Dabei gleicht der erste Satz, ein Andante, eher einer Überleitung zum zweiten Satz, dem Allegro Deciso, der fast doppelt so lang ist. Vom Charakter dieses Andantes ausgehend könnte man durchaus einen weiteren, ihm vorangestellten Satz vermuten. Aber weder das Autograph des Klavierauszuges, noch das der unvollständigen Orchestrierung weisen daraufhin. So bleibt das zweisätzige Konzert auch von seinem eher lichten und romantischen Ausdruck her überraschend. Umso mehr, wenn man es mit dem Wissen um die Umstände seiner Entstehung hört, bei denen Różyckis Heimatstadt in Schutt und Asche fiel. „Für mich ist das Konzert voll von der Energie und dem Leben Warschaus vor dem Krieg“, sagt Janusz Wawrowski. „Und ich glaube, Różycki hat versucht, diese positive Energie zu zaubern, als er die Musik 1944 schrieb.“
Lesen Sie hierzu auch das Gespräch, das der Musikjournalist Thomas Otto mit Janusz Wawrowski anlässlich der Veröffentlichung des Albums „Phoenix“ führen konnte.
tzm