
Was zum Teufel schreien die da unten? Gerade ist Dylan mit „Ballad Of A Thin Man“ fertig geworden und der Applaus ist, wie schon bei den anderen Songs des zweiten Konzertteils, nur mäßig. Spätestens seit Dylan sich nach der Pause die E-Gitarre vor den Leib geschnallt und sich Robbie Robertson und „The Hawks“ als Verstärkung auf die Bühne geholt hat, tut sich dieser Graben zwischen ihm und dem Publikum auf, der immer breiter zu werden scheint. Und während Dylan und die Band nachstimmen, dringt plötzlich von unten dieser Ruf zu ihm: „Judas!“ Dylan schweigt schockiert. Dann, mitten hinein in das Vorspiel von „Like A Rolling Stone“ ruft er „I don't believe you!“ Und, schreiend fast: „You are a liar!“…
Im Mai 1966 fand das legendäre, so genannte „Royal Albert Hall Concert“ statt - allerdings nicht, wie falsch beschriftete Bootlegs lange Zeit glauben machten, in London, sondern in der Manchester Free Trade Hall. Dass Bob Dylan während dieses Konzerts nach der Pause die akustische gegen eine elektrische Gitarre eintauschte, war für sein Publikum mehr als nur ein Instrumentenwechsel. Es war eine Provokation. Für die Folk-Puristen und Fans, die ihn auf ewig in der Woody-Guthrie-Tradition verwahrt wissen wollten, hatte Dylan schlicht Verrat begangen. Noch Jahrzehnte später beklagte der sich in einem Interview, dass man ihm an jenem Abend in Manchester den „meistgehassten Namen der Menschheitsgeschichte" angehängt habe, nur weil er elektrische Gitarre gespielt habe.
Mehr als die Arbeit jedes anderen Songwriters hätten Dylans Lieder sie angesprochen und inspiriert, seit diese sie im Alter von fünf Jahren zum ersten Mal gehört habe, sagt die amerikanischen Singer-Songwriterin Chan Marshall alias Cat Power. Ihr intensives Verhältnis zum Werk Bob Dylans findet in ihrem jetzt veröffentlichten Album „Cat Power sings Dylan“ einen Höhepunkt. Es ist mehr als nur eine Sammlung einzelner Dylan-Coverversionen. Genau vor einem Jahr, am 5. November 2022 veranstaltete die Royal Albert Hall ein Konzert, auf dem Chan Marshall Song für Song eines der legendärsten Live-Sets aller Zeiten nachspielte und damit Bob Dylans legendäre Show von 1966 vollständig nachempfand: Die erste Hälfte der Show als Akustik-Set mit Klassikern wie „She Belongs To Me“, „It’s All Over Now, Baby Blue“ oder „Mr. Tambourine Man“. Nach der Pause, mit E-Gitarre und in Begleitung ihrer elektrisch verstärkt spielenden Band die Steine des Anstoßes für den Zorn der Dylan-Jünger: „I Don’t Believe You“, „Baby, Let Me Follow You Down“, „Ballad Of A Thin Man“ und natürlich „Like A Rolling Stone“.
„Es war etwas Impulsives“, sagt Chan Marshall über dieses Konzert „Ich hatte nicht erwartet, dass das Publikum auch seinen Teil der Originalshow nachahmen würde, aber ich wollte es klarstellen: In gewisser Weise ist Dylan für uns alle, die wir Songs schreiben, eine Gottheit.“
Und so antwortet sie dem Zuschauer, der in Nachahmung der Originalaufnahme wie damals „Judas“ ruft, anders als Dylan damals mit: „Jesus“.
Dieses aufregende Dokument gibt es jetzt als Doppel-CD und als Doppelalbum in schwarzem, sowie limitiert erscheinendem weißen Vinyl.
tzm

Cat Power
„Cat Power Sings Dylan“
Domino Records
2CD 17,95 €
2LP Black Vinyl 29,95 €
2LP Ltd. White Vinyl 32,95 €
(Bildrechte: Inez & Vinoodh)