Bruckner hat immer alle Register gezogen


Ein Gespräch mit Hansjörg Albrecht über seine Gesamtaufnahme der für die Orgel transkribierten Bruckner-Sinfonien

Von Thomas Otto


Die Musikwelt begeht in diesem Jahr den 200. Geburtstag Anton Bruckners. In Vorbereitung auf dieses Jubiläum hatte sich der 1972 in Freiberg geborene Dirigent, Organist, Cembalist Hansjörg Albrecht ein Mammutprojekt vorgenommen: nämlich erstmalig das gesamte sinfonische Werk Bruckners in neuen Transkriptionen für Orgel einzuspielen. Die Unternehmung begann 2020 und findet nun nach der letzten Einspielung der sogenannten Studiensinfonie mit der Veröffentlichung der CD-Box ihren Abschluss. Der besondere Reiz dieser Gesamteinspielung liegt nicht allein in der Bewältigung dieser musikalischen Herausforderung - Bruckners Werk wird zudem in einer Reihe neu komponierter Werke eingebettet, die sich direkt und mit einem neuen Blick darauf auseinandersetzen. 
Thomas Otto sprach mit Hansjörg Albrecht über seine gut vier Jahre andauernde Arbeit an diesem Projekt, die Vorbereitung darauf und natürlich über Anton Bruckner.

Herr Albrecht, Bruckner selbst war ja auch Organist und er hat für dieses Instrument ein paar frühe Studienwerke komponiert. Hätte es Sie auch gereizt, sein Orgelwerk einzuspielen? Warum gerade die Sinfonien?

Ich kenne Bruckners Musik seit vielen Jahren - ich war im Dresdner Kreuzchor, wo wir seine Motetten, Messen und sein Requiem gesungen haben. Ich habe auch viel von seiner Musik dirigiert. Aber um die Sinfonie-Orgeltranskriptionen habe ich immer wieder einen Bogen darum gemacht, nicht, weil ich die Arbeit gescheut hätte, sondern weil es – bis auf die 4. Sinfonie - kein Notenmaterial gab. Bis mich Oehms Classics 2019 fragte, ob ich mir vorstellen könnte, Bruckners sinfonisches Werk für Orgel transkribiert komplett einzuspielen. Da kam das Projekt nach und nach ins Laufen. Gerade weil Bruckner von der Orgel kommt, kann man, wenn man dafür Interesse hat, vieles an seinen Sinfonien neu entdecken.

Sind Transkriptionen von Bruckners klanggewaltigen Sinfonien für die Orgel durch die „Reduzierung“ auf dieses eine Instrument nicht mit einem „Verlust“ an Klang verbunden - Streicher, Holz- und Blechbläser sowie Pauken, alles, was bei Bruckner wichtig ist? Das muss auf der Orgel ja klanglich „ersetzt“ werden... 

Das Kunststück besteht, darin, für ein einzelnes Instrument quasi die wichtigen Informationen aus der Partitur zu ziehen. Die Orgel hat natürlich durch die unendliche Vielfalt an Registern Möglichkeiten wie kein anderes Instrument, dem Orchester Paroli zu bieten. Für mich, der ich dirigiere und spiele, ist es wahnsinnig interessant, bei diesem Projekt zu sehen, woher die Dinge wirklich kommen. Wenn man eine Bruckner-Sinfonie in großen, halligen Kirchen aufführt, erschließt sich das Werk plötzlich für Orchester neu. In den Konzertsälen gibt es diesen Hall nicht. Aber in solchen Kirchen begreift man plötzlich, warum Bruckner sich so viel Zeit lässt, warum er Generalpausen schreibt, wie er auf seine ganz persönliche Weise Klang entstehen lässt und mit voluminöser Klangentfaltung umgeht. 
Bei den Orgeltranskriptionen nun werden Dinge verschärft. Sie können mit zehn Fingern und zwei Füßen nicht alles erwischen. Sie können auch keine Orchesterinstrumente 1:1 imitieren. Aber mit der Orgel kann man etwas von der Größe und Universalität des Brucknerschen Klangkosmos vermitteln. Ich selbst bin ein extremer Klangfetischist und komme pro CD-Aufnahme etwa auf tausend verschiedene Klangkombinationen und auch in den Live-Konzerten mit den Bruckner-Sinfonien oder vergleichbaren Werken z.B. von Richard Wagner verwende ich etwa fünf bis sechshundert Kombinationen, wodurch die Instrumente dann in einem ganz neuen Licht erstrahlen. 
Wenn nun etwa in der Partitur steht: „Blech“, oder „Streicher“, dann erhebt sich immer die Frage: wie übersetzt man das auf die Orgel? Oder: im Original spielt die Oboe eine Kantilene. Nun gibt es zwar auf der Orgel das Register „Oboe“, nur, das klingt nicht so wie das gleichnamige Orchesterinstrument. Also muss man von Orgel zu Orgel ganz frei und unterschiedlich reagieren und schauen, wie man so nah wie möglich an den Orchesterklang und damit die Intention des Komponisten herankommt. Und dafür ist entscheidend, welche Register man wählt. 

Die Aufnahmen für diesen Zyklus fanden an verschiedenen Orten, mit sehr unterschiedlichen Orgeln statt. Nach welchen Kriterien haben Sie entschieden, welches Werk an welcher Orgel aufgenommen werden soll? 

Ich habe zunächst geschaut, an welchen Orten Bruckner gewesen ist: Linz, Wien, München, Paris, London…. Und dann ging es bei der Auswahl natürlich auch um die Instrumente. Bruckner war ja am Alten Dom in Linz Organist. Doch dort steht eine Barockorgel, auf der hat er aber de facto nur improvisiert. Die Bruckner-Orgel in St. Florian hat mit der Orgel, wie Bruckner sie noch kannte, relativ wenig zu tun, das ist heute ein wahnsinnig beeindruckendes Instrument. Und dann ist man in diesem besonderen Raum… Das fühlt sich schon sehr besonders an!  Was dem Brucknerklang sehr nahe kommt ist die neue Orgel im Goldenen Saal des Musikvereins in Wien. Es war für mich eine Riesenüberraschung, wie ein solcher Raum, ein Konzertsaal, der Orgel so dermaßen „umarmend“ helfen kann. 
Ich hätte es mir auch leichter machen können und das ganze Projekt an einem guten Instrument verwirklichen können. Aber für mich war es wichtig, Bruckners „Klangspuren“ in Europa ein wenig aufzuzeigen. 

Das Repertoire der Gesamtausgabe Ihrer Bruckner-Einspielungen umfasst nicht nur die für Orgel transkribierten Sinfonien. Quasi als Ergänzung gibt es neben kleineren Kompositionen Bruckners auch die so genannten „Bruckner-Fenster“: Komponistinnen und Komponisten der Gegenwart antworten musikalisch auf Bruckner? Wie kam diese Konzeption zustande? 

Das hatte zunächst einen einfach praktischen Grund: Wenn ich nur die Sinfonien-Transkriptionen eingespielt hätte, dann wären bei den frühen Sinfonien die Spielzeiten, ca. eine Dreiviertelstunde, zu kurz für eine CD. Wichtiger aber war für mich der Aspekt, dass Bruckner ja nicht nur Mahler, Schönberg, Schostakowitsch, Hindemith oder Sibelius, sondern auch die Moderne beeinflusst hat, zum Beispiel mit seiner Pattern-Technik, mit der er die Minimal-Music vorausgenommen hat, etwa Philipp Glass oder Steve Reich. Da war wurde mir klar, dass ich diesen Schritt zum 21. Jahrhundert gehen möchte. 

Und nach welchen Kriterien erfolgte die Auswahl der Komponisten und ihrer Werke? 
Es sollten kreative Köpfe sein, die sich Bruckner irgendwie verbunden fühlen. Ich habe mich mit verschiedenen Komponistinnen und Komponisten beschäftigt und es war interessant, wie diejenigen, die ich kontaktiert habe, reagiert haben. Johanna Doderer zum Beispiel habe ich im Münchner St. Peter die Orgel vorgeführt. Sie hatte einen so großen Respekt vor diesem Monsterinstrument Orgel, weil das für sie wie eine Fremdsprache war. Ich bot ihr an, dass sie ein Orchesterstück schreibt, welches ich dann transkribieren würde. Ich habe schließlich Uraufführung ihres Orchesterwerks „Pinus“ dirigiert und es für diese Aufnahme transkribiert.  Eine der für mich gelungensten Kompositionen der „Bruckner-Fenster“ ist das Choralvorspiel VIII für Orgel „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ von Philipp Maintz, das zusammen mit Bruckners 9. Sinfonie auf einer CD ist. Als ich das spielte, hatte ich das Bild des alternden Bruckners vor mir, kurz vor dem Tod, von Ängsten geplagt, um die Vollendung seiner Neunten ringend.

Lassen Sie uns noch bei der Neunten bleiben: Wir hören sie mit dem durch Gerd Schaller komplettierten Finale, in einer Transkription des Würzburger Organisten und ausgewiesenen Bruckner-Experten Erwin Horn. Er hat auch die meisten der von Ihnen eingespielten Transkriptionen erschaffen. Gab es im Laufe des Aufnahmeprozesses Gelegenheiten, sich mit ihm über seine Transkriptionen zu verständigen?

Das geschah permanent! Erwin Horn hatte mir die Transkriptionen von der Nullten bis zur Dritten als Handschrift gegeben und mir freie Hand bei der Realisierung des endgültigen Ergebnisses gelassen.

Wissen Sie, warum er sich gerade für Gerd Schallers Vervollständigung entschieden hat? Es gab für den unvollendeten Finalsatz schließlich mehrere Ansätze der Vervollständigung durch verschiedene Komponisten…

Die beiden hatten sich kennengelernt und Erwin Horn hatte Schaller gefragt, ob man nicht zusammenkommen könne bei der Vollendung der Neunten für den Verlag Ries & Erler. Diese Fassung ist dann 2019 erschienen und Erwin Horn hat sie transkribiert. 
Durch die Hinzunahme dieses ergänzten Finales durch Gerd Schaller, das ich persönlich auch wirklich gut finde, hat dieses ganze Projekt nochmal eine ganz eigene Facette bekommen. 
Ergänzend möchte ich zum klanglichen Aspekt der Gesamteinspielung noch anmerken: Natürlich bildet die Orgel klanglich nicht das Original ab, etwa wenn Sie mit beiden Händen und Füßen und allen Registern spielen. Da müsste man eigentlich im Overdub-Verfahren erst die Streicher viel weniger laut aufnehmen, dann, ganz anders registriert, die Holzbläser und dann, ebenfalls separat die Blechbläser. Aber so hat Bruckner natürlich auch nicht an der Orgel (z.B. bei seinen Konzerten in Paris und London) gespielt. Es gibt einen Brief an einen Freund, in dem er schreibt, dass er, um seine Vision ausdrücken zu können, große Instrumente braucht. Bruckner hat immer alle Register gezogen, er war für seine minutenlangen Pedaltriller mit riesigen Akkordballungen darüber bekannt. Die französischen Komponisten lagen ihm damals in Paris dafür zu Füßen! Wenn man von Bruckners „Klangkathedralen“ redet – hier hört man sie wirklich!