John Cale – „POPtical Illusion”

John Cale, inzwischen 82 Jahre alt, war schon immer ein Musiker, dem es um Veränderungen ging. Untrennbar mit seinem Namen verbunden ist die New Yorker Avantgarde-Rock Band „The Velvet Underground“, die er 1965 gemeinsam mit Lou Reed gründete und nach drei Jahren verließ, um sich seiner Solokarriere zu widmen. Cale, der bei John Cage und Aaron Copland studiert und eine klassische Ausbildung für Bratsche und Klavier genossen hatte, trat fortan als Solist mit eigener Begleitband auf. Die 1970er und frühen 1980er Jahre boten ihm mit ihrer Experimentierfreudigkeit die ideale Basis für eine einzigartige Karriere. Er spielte eine Reihe zeitloser Alben ein, die bis heute legendären Status in der Welt der Rockmusik abseits des Mainstreams einnehmen. In ihnen verschmolz Cale auf eine ihm ureigene Weise rohen Rock’n’Roll mit Avantgarde, klassisch inspirierter Kompositionskunst und hochkarätigen Texten. Als Produzent hinterließ er mit den Debutalben von The Stooges (Iggy Pop) und Patti Smith unauslöschliche Spuren. Mit seiner Velvet Underground-Weggefährtin Nico nahm er deren Solo-Alben „The Marble Index“, „Desert Shore“ und „The End“ auf – alle drei gelten als Blaupausen für den später sich entwickelnden Gothic-Stil. John Cale, der in seinen jüngeren Jahren einem risikofreudigen Lebensstil nicht ganz abgeneigt war, pausierte ab Mitte der 1980er, um wenige Jahre später regeneriert und von neuen Ideen beflügelt ins Musikgeschäft zurückzukehren. Er arbeitete mit Orchester und kammermusikalischen Besetzungen, nahm Duo-Alben mit Lou Reed, Brian Eno und Bob Neuwirth auf und ging zur Freude vieler Fans auf eine kurze Reunion-Tour mit The Velvet Underground. Das Millennium läutete schließlich eine weitere Zeitenwende in Cales musikalischem Werk ein. Zunehmend beschäftigte er sich mit elektronischen Klängen und zeitgemäßen Produktionsmethoden; alte Songs erklangen live in neuen Gewändern, neue Songs wirkten geschliffen modern, ohne auf die typische Handschrift zu verzichten. Dieser kreative Prozess führte in mehreren Etappen bis zu „M:Fans“ in 2016, einer Neuaufnahme seines Meisterwerks „Music for A New Society“ von 1982, welches zu einer Einspielung geriet, die seine Anhänger durchaus zu polarisieren wusste. Schließlich, nach einer Aufnahmepause von sieben Jahren, veröffentlichte Cale 2023 „Mercy“, sein erstes Album mit neuen Songs seit über einem Jahrzehnt. Inhaltlich war es stark von den Erfahrungen der Covid-Pandemie, dem Brexit und der zurückliegenden Präsidentschaft Donald Trumps geprägt, die Musik dazu ein oft schräg sich darum rankender Strom elektronischer Klänge. Jetzt, etwa ein Jahr später, folgt überraschend „POPtical Illusion“, ein Album, das weiter Gefühle von Zorn und Unzufriedenheit über den unkontrollierten Kapitalismus enthält, die mutwillige Zerstörung der Umwelt und der Menschlichkeit, andererseits aber Hoffnung und Lichtblicke für die Zukunft aufblitzen lässt. Das ist auch der Musik anzumerken, die transparenter und melodischer als auf dem Vorgänger erklingt, wobei Cale den minimalistischen, mäandernd-pulsierenden Strukturen für seine Songs weitgehend treu bleibt. Dafür sind rockige Ausbrüche wie „Shark-Shark“ oder „Company Commander“ umso genüsslicher, worin Anklänge an seinen New Wave Rock der 1980er aufleben oder in Refrains typische Metaphern ertönen dürfen wie „you’re killing my constables every night“. Solche Momente sind großes Cale-Kino für gestandene Fans des gebürtigen Walisers. Im Ganzen betrachtet und über die mehrheitlich balladesken Songs sich ausdehnend, macht „POPtical Illusion“ sogleich Lust auf die nächste Runde, da sich mit jedem weiteren Hören erschließt, was unter Cales Regie zu einem reifen, weisen und im besten Sinne schönen Album geraten ist. Eine Sommerplatte für Fortgeschrittene, erst recht in diesen Zeiten! 

Thiemo Bruell/tzm/BEL
 

John Cale 


„POPtical Illusion”


Domino Records / Believe


CD 16,95 €


2LP Black Vinyl 33,95 €


2LP Neon Orange Vinyl 34,95 €

(Bildrechte: Madeline McManus)