
Birgit Nilsson – The Great Live Recordings
31 CD Longplay
SONY CLASSICAL
Artikel-Nr.: 88985392322
VÖ: 07.09.2018
Ich wollte nicht, daß er aufhört zu dirigieren!
Der Gesangslehrer und Kantor einer kleinen Gemeinde im beschaulichen Süden Schwedens war überrascht, als eines Tages eine junge Frau bei ihm vorsprach und ihn um Rat bat, ihre Stimme betreffend. Zwar wollte sie schon von Kindesalter an singen, aber sie wusste nichts von der großen weiten Welt der Oper. Sie sang also vor, eine Ballade, die eigentlich für einen Bariton komponiert worden war, der Kantor begleitete sie am Klavier. Als sie fertig war mit dem Singen, drehte sich der Kantor um und sagte: „Fräulein, Sie werden mal eine berühmte Sängerin!“ Ein halbes Jahr lang blieb sie seine Schülerin, bevor er sie nach Stockholm auf die Königliche Musikakademie schickte. Von den 49 Bewerberinnen, die mit ihr zum Vorsingen nach Stockholm gekommen waren, blieben zwei, von denen sie die Nummer Eins war. Der Kantor aus jener kleinen südschwedischen Gemeinde hatte ihr die Tür zur Welt aufgestoßen - bis an ihr Lebensende hat sie ihm das nicht vergessen...
Birgit Nilsson erzählte diese Geschichte während eines Interviews auf die Frage hin, wie ein Mädchen aus einfachen, bäuerlichen Verhältnissen auf die großen Opernbühnen dieser Welt gelangt sei.
Das zurückliegende Jahrhundert war mit Namen großer Künstler wahrlich reich bedacht. Kaum eine Sängerin jedoch wurde zu Lebzeiten und bis heute mit so viel Lob und Begeisterung bedacht, kaum ein Name so oft schwelgend genannt, wie der jener schwedischen Sängerin Birgit Nilsson, deren 100. Geburtstag die Operngemeinde weltweit in diesem Jahr begeht. Anlaß für Sony Classical, eine äußerst ansprechende Box mit einer Sammlung von Live-Mitschnitten zu veröffentlichen, die nicht nur die enorme Stimmkraft und Bühnenpräsenz der Nilsson dokumentieren, sondern auch ihre ungeheure Vielseitigkeit bei der Auswahl ihrer Rollen. Nilsson machte als fulminante Wagner-Sängerin Karriere. Ihre einzigartige Gesangsbegabung und ihre Fähigkeit, sich die schwierigsten Rollen anzueignen und zu singen jedoch, ermöglichten ihr eine ungeheure Bandbreite des Repertoires. Sie sang Richard Strauss, Giacomo Puccini, Giuseppe Verdi, Ludwig van Beethoven, Bela Bartok. Auch Opern, die seinerzeit nicht unbedingt zu den Repertoirestücken der Musiktheater zählten, wie etwa Webers „Oberon“, verhalf sie zu neuer Aufmerksamkeit.
Unzählige Male hat Birgit Nilsson für Plattenproduktionen in ein Mikrofon gesungen – bis zum Schluß war sie nie wirklich zufrieden damit, weil ihre starke Stimme vor allem in den Höhen schwer aufzunehmen war und deshalb, wie sie es nannte, „kleiner“ gemacht werden mußte. Das hebt die Besonderheit der jetzt von Sony Classical veröffentlichten Box hervor: sie dokumentiert Birgit Nilsson als Live Künstlerin.
Der Name Birgit Nilssons stand auf den Besetzungslisten der Produktionen der großen Opernhäuser dieser Welt, von der Metropolitan Opera über die Wiener Staatsoper bis nach Bayreuth. Dorthin kam sie 1954 zum ersten Mal nach Bayreuth – als Elsa im „Lohengrin“. Von 1957 an war sie dann dreizehn Jahre Lang ständiges Mitglied des Bayreuth-Ensembles! Gleich vier Mal wird dieser Glücksfall für die Bayreuther Festspiele in der Box belegt, etwa durch den Mitschnitt von eben jenem 1954er „Lohengrin“ unter Eugen Jochum. Bis heute gilt Nilssons „Isolde“,als ein Jahrhundertereignis. Sie und Wolfgang Windgassen als Tristan waren für die begeisterte Operngemeinde zwei Jahrzehnte lang Tristan und Isolde schlechthin. Zu den Höhepunkten der Box gehört darum zweifellos die Aufführung von „Tristan und Isolde“ vom 19. August 1957 mit Wolfgang Sawallisch am Pult.
Birgit Nilsson hat mit allen großen Dirigenten ihrer Zeit gearbeitet, angefangen von Fritz Busch, über den sie bis zu Schluß liebevoll als Vaterfigur sprach, über Hans Knappertsbusch, Otmar Suitner, Leopold Stokowski, bis hin zu Herbert von Karajan, Wolfgang Sawallisch, Eugen Jochum, Leonard Bernstein. Wie wichtig Karl Böhm ihr als Dirigent und vor allem als Strauss-Interpret war, belegen gleich fünf Mitschnitte in dieser Box, darunter die „Salome“ aus der Metropolitan Opera vom 13. März 1965 und die „Elektra“ vom 19. September 1967.
Es gibt ein Interview August Everdings mit Birgit Nilsson, bei man auch auf Karl Böhm zu sprechen kam. Der habe mal gesagt: „Wenn die Birgit nicht mehr singt, dann will ich nicht mehr dirigieren“. Birgit Nilsson lachend darauf: „Deswegen habe ich solange gesungen – ich wollte nicht, daß er aufhört zu dirigieren!“
Thomas Otto