Ove Andsnes – Chopin

Ove Andsnes – Chopin

Ove Andsnes – Chopin
1 CD Longplay
SONY CLASSICAL
Artikel-Nr.: 19075822932
VÖ: 07.09.2018

Der heilige Gral

Es ist immer wieder ein langer Weg für einen Pianisten, sich eines Werkes anzunehmen, es einzustudieren und schließlich aufzuführen, vielleicht sogar mit ihm ins Plattenstudio zu gehen. Die Gründe, sich für einen Komponisten und sein Werk zu entscheiden, können vielfältig sein: Wunschlisten der Konzertveranstalter oder Plattenfirmen, die Suche nach technischer Herausforderung, emotionale Nähe zu den Stücken oder einfach Neugier.  Ein Blick auf das Repertoire des heute 48jährigen norwegischen Pianisten Leif Over Andsnes vermittelt einen Eindruck davon, wie oft er sich auf den Weg gemacht hat, immer wieder. Nielsen, Schubert, Grieg, Beethoven oder Brahms sind ihm vertraut - erst vor kurzem präsentierte er einem überraschten wie begeisterten Publikum Jean Sibelius als einen Klavierkomponisten, wie man ihn bisher nicht wahrgenommen hatte.

Manche Komponisten läßt man auch mal ruhen, bevor man sich ihnen wieder zuwendet. Mit Frédéric Chopin zum Beispiel hatte Andsnes sich vor über zehn Jahren zuletzt stärker auseinandergesetzt. Für sein neues, jetzt bei SONY CLASSICAL erschienenen Album, konzentrierte er sich ganz auf eine musikalische Gattung, die Chopin etabliert hatte: die vier Balladen: Ansdnes liebt die Stücke seit seiner frühesten Jugend. Aber auch wenn er die ersten drei Balladen bereits aufgeführt hatte – die vierte sei ihm wegen ihrer Komplexität lange als „unerreichbarer Traum“ erschienen, „wie ein heiliger Gral“. Jetzt hat er ihn getrunken, bis zur Neige…

Der „Poet am Klavier“ Chopin, der übrigens fast ausnahmslos für dieses Instrument komponiert hatte, hatte nie äußerlicher Anregungen für seine Kompositionen bedurft. Programmmusik etwa war ihm suspekt. Die vier Balladen machen da gewissermaßen eine Ausnahme. Chopin hatte zu Robert Schumann davon gesprochen, daß es die „Litauischen Balladen“ seines polnischen Landsmannes und Literaturreformers Adam Mickewicz gewesen seien, die ihn beispielsweise zur ersten Ballade als einer zugleich neuen musikalischen Form inspiriert hätten, bei der  das lyrisch-poetische Element einer dramaturgischen Gestaltung mit Form und Ausdruck weicht. In Paris komponiert, ist allen Balladen doch ein typisch polnisches Merkmal eigen: der Sechsviertel- und Sechsachteltakt, wie sie für das alte polnische Tanzlied, die „Balata“ üblich sind. 

Es ist gleichwohl einzig der erzählerische Charakter der vier Balladen, den Leif Ove Andsnes bei seiner Interpretation für diese Einspielung aufnimmt. Nicht etwa fiktive Handlungen, wie in Mickiewicz’s Ballade über das tragische Schicksal eines litauischen Volkshelden, sondern die Musik selbst sei es, die ihn herausfordere, sagt Andsnes.  Ihre „Vielzahl der Farben, die Mannigfaltigkeit und Rätselhaftigkeit des Ausdrucks“ machten diese Balladen zu etwas ganz Besonderem für ihn. Intensive, ausdrucksstarke zugleich filigrane kleine Meisterwerke, ein jede für sich – um die Balladen wirklich wirken zu lassen, entschied sich Andsnes dafür, sie mit drei Nocturnes zu durchsetzen.

Dem Zuhörer der Platte werden sie willkommene Atempausen sein, die sie dem norwegischen Pianisten als „bezwingendem musikalischen Erzähler" ("Neue Zürcher Zeitung") wie auch sich selbst vergönnen.

Thomas Otto