Eine Pieta für Warschau

Als Ludomir Różycki an seinem Violinkonzert arbeitete, hatte der Warschauer Aufstand begonnen, der nach zwei Monaten, am 2. Oktober 1944, von der deutschen Wehrmacht blutig niedergeschlagen worden war. Vor der Flucht aus dem umkämpften Warschau vergrub  Różyckis Frau alle Entwürfe im Garten der Warschauer Villa. Als der Krieg schließlich zu Ende war und Warschau langsam wieder aufgebaut wurde, fanden Bauarbeiter genau dort, wo Różyckis Haus gestanden hatte, einen Koffer mit verschiedenen Noten und Manuskripten...

Janusz, Ihre Rolle bei der Veröffentlichung dieses Konzerts geht weit über seine solistische Darbietung hinaus. Ohne Sie wäre es in dieser Form gar nicht zu erleben.  Sie haben es gewissermaßen wiederentdeckt und mit Ihrer Bearbeitung neu aus der Taufe gehoben. Wie sind Sie auf Lubomir Różycki gestoßen?

Ich war auf der Suche nach Notenmaterial für mein Kammermusikfestival,   das war etwa 2007/2008. Mich interessierte damals besonders die Musik vom Beginn des 20. Jahrhunderts, späte, noch romantische Musik, besonders aus der Gruppe von Komponisten die sich „Junges Polen“ nannte. Zu ihr gehörte neben Karol Szymanowski und Mieczyslaw Karowicz auch Ludomir Różycki. Und zwischen all den Quartetten und Quintetten brachte mir eine Musikwissenschaftlerin etwas und sagte: „Hier haben Sie den Beginn eines Violinkonzertes von Ludomir Różycki.“ Es war ein Autograph des ersten Satzes - allerdings nur die ersten 87 Takte. Für mich war das eine unglaubliche Entdeckung. Różycki war zu dieser Zeit nicht bekannt, niemand spielte seine Musik.

Einige Jahre später traf ich den Dirigenten Zygmunt Rychert. Der erzählte mir, dass auch er eben dieses Konzert gefunden und es inzwischen orchestriert habe. Außerdem gab bereits eine Bearbeitung aus den fünfziger Jahren. Sie stammte von dem Komponisten Jan Fotek.

 

Worin unterschieden sich diese Bearbeitungen von der, die Sie später vornahmen?

Ich glaube, die allererste Version von Jan Fotek war so schlecht, dass niemand sie spielen konnte. Ich weiß, dass es in den 70er Jahren von mehreren Geigern Versuche einer Aufführung gab. Aber sie legten die Musik wieder beiseite und spielte stattdessen lieber Tschaikowski. Und was die Version von Zygmunt Rychert betrifft , so fand ich sie zu stark verändert und vereinfacht. Was mich aber am meisten überraschte war, dass die vorhandenen 87 Takte der Originalorchestrierung überhaupt nicht verwendet worden waren.

Von diesem Punkt an beschloss ich, die Arbeit an dem Werk noch mal aufzunehmen, natürlich mit den ersten 87 Takten. Ich arbeitete dabei mit dem Pianisten, Dirigenten und Arrangeur Ryszard Bryła zusammen, der hauptsächlich mit der Orchestrierung beschäftigt war und eine großartige Arbeit leistete. Sie basierte vor allem auf dem Autograph des ebenfalls erhalten gebliebenen Klavierauszugs und Bryłas Wissen um die anderen symphonischen Stücke von Różycki. 

 

Für Sie als Geiger war es sicher hilfreich, dass Różycki den Violinenpart komplett notiert hatte...

Unbedingt und er war an und für sich auch sehr gut geschrieben. Dennoch fand ich verschiedene Passagen, die nicht wirklich violonistisch gedacht und notiert worden waren - Różycki war Pianist! Sie klangen nicht besonders gut und ließen sich auch nicht besonders gut spielen. Hier bearbeitete ich einige Takte – nicht, damit sie einfacher würden, sondern damit sie dem Instrument mehr entsprächen. Ich habe meine Rolle als die eines Consultants mit großem Respekt vor dem Werk verstanden und nicht als die eines Arrangeurs.

 

Die Wirkung dieses Konzerts ist auch insofern überraschend, als dass sein romantischer  musikalischer Gestus schwer mit den Bedingungen in Übereinklang zu bringen ist, unter denen es entstand: Krieg Feuer, Zerstörung...

 Ja, das ist wirklich interessant, diese Musik ist an vielen Stellen so kraftvoll, so optimistisch.  Es ist  wie eine Art Manifest, eine Art Schöpfung seiner eigenen Welt inmitten all des Elends. Wie ein Impfstoff gegen die depressiven Gedanken. Es war wie eine kleine Pieta, ein kleines trauriges Bild von dem zerstörten Warschau und zugleich, als ob er die ganze Liebe und Energie seines Lebens und seiner Kreativität noch mal in dieses Stück gegeben hätte – nach dem Krieg hatte er keine Kraft mehr, noch etwas Großes zu schaffen.  

 

Sie wollten das Różycki-Konzert mit dem Tschaikowski-Violinkonzert zusammen aufnehmen –was verbindet diese beiden Konzerte?

Zum einen gibt es gewisse Ähnlichkeiten in der Kompositionstechnik, bei der Virtuosität, bei der slawischen Melodik, wie sie für  russische und polnische Komponisten  typisch war.  Zum anderen wollte ich die Phantasie beider Komponisten zeigen, wenn es darum geht, Märchen zu erzählen. Denken Sie nur an die Ballette Tschaikowskis, etwa an den „Nußknacker“ oder „Schwanensee“. Auch Różycki hat Ballette und Opern geschrieben, sein Ballett „Pan Twardowski“ wurde mehr als 800 Mal in Warschau aufgeführt. Der dritte Grund für mich war die Möglichkeit eines der bekanntesten und meistgespielten Konzerte mit einem gänzlich unbekannten Werk kombinieren und vergleichen zu können. Gewissermaßen ist es für mich auch eine kleine Provokation und darum spannend für mich, zu erleben, wie die Leute darauf reagieren.