Die menschliche Art des Musizierens

Von Thomas Otto

 

Im Dezember 2019 verstarb der Dirigent Mariss Jansons. Bei dem Label BR Klassik erschien jetzt eine Edition, die sämtliche Aufnahmen des großen Dirigenten mit Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks enthält.
Mariss Jansons, den eine beeindruckend produktive, 28 Jahre währende Liaison mit den Wiener Philharmonikern verband, war auch mit dem Symphonieorchester des BR häufiger Gast in Wien. Von Januar 2004 bis Oktober 2019 stellte er dort bei insgesamt 29 Konzerten die große Programmvielfalt und die hohe Spielkultur „seines“ Orchesters unter Beweis.
Thomas Angyan wurde im Juli 1988 Generalsekretär und 2005 zum ersten Intendanten der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien ernannt und übte dieses Amt bis Juni 2020 aus. In dieser Funktion verband ihn neben einer umfassenden Zusammenarbeit auch eine langjährige Freundschaft mit Mariss Jansons. Thomas Otto sprach mit ihm über seine Jahre mit Mariss Jansons.

Herr Angyan, den größten Teil jener Jahre, die Mariss Jansons mit Ihrem Haus verbanden, haben Sie als Intendant der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien mit ihm zusammengearbeitet. Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Begegnung mit Jansons?

Sie sprechen von der Zusammenarbeit Mariss Jansons‘ mit den Wiener Philharmonikern und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, aber sein Debüt in Wien hatte Mariss Jansons 1978 mit den Leningrader Philharmonikern im Musikverein. Und das war der Moment, wo ich ihn kennenlernte und auf ihn aufmerksam wurde.  Das war weit vor den Wiener Philharmonikern, weit vor dem Orchester des BR. 

1980 führte ich das erste Mal Gespräche mit ihm, bei denen es um Projekte der „jeunesses musicales“ ging.  Damals begann auch die Zusammenarbeit mit den Osloer Philharmonikern, deren Chef er war. Dieses Orchester war bis dato eigentlich ein weißer Fleck auf der musikalischen Landkarte Europas.  Nachdem weder der Musikverein noch das Konzerthaus Interesse an diesem Gastspiel hatten, lud ich Oslo Philharmonic in meiner Funktion als Generalsekretär der musikalischen Jugend Österreichs ein. Das Konzert fand dann im Musikverein als Veranstaltung der „jeunesses musicales“ statt. Der künstlerische Erfolg dieses Konzertes hat uns sogleich bestärkt, gemeinsam Pläne für die Zukunft zu machen. Nachdem ich Generalsekretär der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien geworden war,  habe ich Jansons gleich wieder sowohl mit den Leningrader als auch mit  dem Oslo Philharmonic eingeladen. Später dann hatte ich mehrfach  Mariss Jansons einen eigenen Zyklus angeboten, mit den Wiener Philharmonikern, dem Concertgebouw Orchestra und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. In der Zeit, als Jansons Chef der beiden Orchester in München und Amsterdam war, kam er jedes Jahr für 5 – 7 Konzerte nach Wien.

Die Zusammenarbeit mit den Wiener Philharmonikern im Musikverein begann 1997 - von da an wurde Mariss Jansons vom Orchester jährlich als Dirigent  eingeladen.  Dazwischen kam Mariss Jansons ja auch regelmäßig mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra und auch mit dem Gustav Mahler- Jugendorchester.  

Insgesamt hat Mariss Jansons 172 Konzerte im Wiener Musikverein dirigiert. 

Wie kamen die Programme, die Jansons im Goldenen Saal spielte, zustande? Und wie war das, wenn er mit seinem Orchester kam: waren Sie und er bei vorherigen inhaltlichen Absprachen immer d’accored?

Das war immer ein Geben und Nehmen. Das erste Aufeinanderzugehen kam aber meistens von mir: „Wann kommst du wieder? Mit welchem Orchester?“ Dann sind wir die nächsten Tourneen durchgegangen, man kann ja keinen Einzelausflug nach Wien machen. Der Musikverein war bekannt dafür, dass er sehr langfristig plant. Die Programme haben wir daher schon in der Vorbereitungszeit besprochen. Bei solchen Tourneen ist es üblich, dass Agenturen immer mehrere Programme anbieten  und ich habe dann mit  Mariss darüber gesprochen, welches Programm das Geeignetste  für den Saal sei, für seine Größe, für unser Konzept. Ich würde heute sagen, dass ich im Großen und Ganzen   auf seine Wünsche eingegangen bin. Es wurde dann ein bisschen schwieriger, als er Chefdirigent beim Concertgebouw und dem Bayerischen Rundfunk war, denn da kam es schon vor, dass Mariss das gleiche Werk mit München und mit Amsterdam spielen wollte …

Aber das ist ja hochinteressant, dann hätten Sie ja den direkten Vergleich mit beiden Orchestern …

… natürlich und auch mit dem dritten Orchester, den Wienern. Trotzdem sollte man solche Doubletten vermeiden. Geschehen konnte dies auch nur, weil es keine Stadt außer Wien gab, in der Jansons in der gleichen Saison sowohl mit dem Symphonieorchester des Bayrischen Rundfunks als auch mit dem Concertgebouw Orchestra gastierte.“

Der Anlass unseres Gesprächs ist die bevorstehende Veröffentlichung der Box mit den Gesamtaufnahmen Mariss Jansons‘ mit dem Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Ist Ihnen noch in Erinnerung, mit welchem Programm das SOBR unter Mariss Jansons zum ersten Mal bei Ihnen war?

Das Orchester war natürlich auch vor Mariss Jansons oft zu Gast in Wien, mit Dirigenten wie Rafael Kubelik, Sir Colin Davies oder Lorin Maazel. Mariss Jansons kam im Januar 2004 zum ersten Mal mit dem Orchester des Bayerischen Rundfunks zu uns, mit Dvoraks Sinfonie Nr. 9 „Aus der neuen Welt“ und Schostakowitschs 6. Sinfonie

… er hatte ja mit den Osloern damals auch einen Schostakowitsch-Sinfonien-Zyklus aufgenommen, der große Beachtung fand …

Das ist richtig, aber er kam immer nur mit einzelnen Sinfonien, nie mit dem ganzen Zyklus zu mir.

Sind Ihnen im Vergleich früherer Hörerfahrungen mit dem SOBR Unterschiede, etwa beim Klang des Orchesters aufgefallen?

Mariss Jansons zählt, wie auch Lorin Maazel zu den wichtigsten Dirigenten ihrer Zeit und die Hörerlebnisse mit beiden gehen immer auf ganz persönliche Empfindungen zurück. Für mich stand bei Lorin Maazel immer die technische Brillanz und Perfektion im Vordergrund. Bei Mariss kam noch eine menschlichere Art hinzu, die man hören und fühlen konnte.

Mariss Jansons war speziell vom Goldenen Saal begeistert und ob seiner architektonischen Besonderheit des „doppelten Bodens“ und der schwebenden Decke schwer beeindruckt. Er schwärmte von dem so besonderen Klang des Saales. Haben Sie auch über solche Details gesprochen?

Ich war mit ihm auf dem Dachboden, habe ihm die ganze Aufhängung der Decke gezeigt, und natürlich war ich mit ihm auch unter dem Parterre. Es gibt unter dem Großen Saal einen Raum, der ist zweieinhalb Meter hoch und da ist einfach - nichts! Wo findet man das heute, wenn man einen neuen Saal baut?! Aber genau das macht einen Großteil dieser unglaublichen Akustik aus. Der ganze Saal ist wie ein großer Kontrabass: er schwingt oben mit, er schwingt unten mit. Und die Sitze im Podium sind auch deshalb so begehrt, weil man durch den großen Hohlraum darunter die Musik nicht nur hört, sondern auch spürt. Wenn also ein Kontrabass spielt, oder ein Schlagzeug oder ein Blech einen Einsatz hat, dann vibriert das ganze Podium mit. Das hat Mariss auch so fasziniert.

Nach den langen Jahren der Zusammenarbeit mit Mariss Jansons, den vielen Gesprächen und Begegnungen mit ihm – wie würden Sie ihn beschreiben? Was unterschied ihn von anderen großen Dirigenten, die Gast in Ihrem Hause waren?

Ich würde zwei Aspekte dabei beschreiben. Das eine ist der künstlerische. Mariss Jansons war ein Künstler, der nie mit dem Erreichten zufrieden war, der immer nach mehr gestrebt hat. Er hat die größten Sternstunden im Musikverein produziert, die man sich überhaupt vorstellen kann. Ich stehe nach jedem Konzert dort, wo der Dirigent von der Bühne kommt. Die erste Frage von Mariss Jansons war immer: „Thomas, war es auch gut?“ – obwohl es eine Sternstunde war! Einen solchen Anspruch habe ich bei kaum einem Künstler erlebt, dieses Streben, immer noch einen Schritt weiterzugehen, nie zu glauben, jetzt habe man den Olymp erreicht.

Das zweite ist das Menschliche. Ich hatte in meinen 32 Jahren im Wiener Musikverein wirklich viele, sehr viele Begegnungen mit Künstlern. Aber kaum einem bin ich menschlich so nahegestanden, wie Mariss Jansons. Und auch das ist bezeichnend, wenn man über ihn spricht: Ich habe noch nie von einem Dirigentenkollegen ein negatives Wort über Mariss Jansons gehört und ich habe nie ein negatives Wort von Mariss Jansons über einen anderen Dirigentenkollegen gehört.

Als Mariss Janson gestorben ist und wir alle fassungslos waren, haben wir einen Tag nach München auch in Wien, an Jansons‘ Geburtstag, ein Gedenkkonzert gespielt. An diesem Tag war Riccardo Muti mit dem Chicago Symphony Orchestra in Wien und hat am Abend hier dirigiert. Ich habe ihn gefragt, ob er nicht das Gedenkkonzert am Nachmittag mit einem Satz von Schuberts „Unvollendeter“ einleiten könnte. Und er, der am selben Tag um 19:30 Uhr ein Verdi-Requiem zu dirigieren hatte, hat sich sofort dazu bereit erklärt und die Wiener Philharmoniker dirigiert. Auch Valery Gergiev hat bei diesem Konzert dirigiert. Muti hielt am Abend, nach dem Verdi Requiem, noch eine ganz berührende Rede.

Und jetzt erzähle ich Ihnen noch eine Geschichte. Sie erinnern sich vielleicht: im Sommer 2000 ist Claudio Abbado sehr schwer erkrankt. Im Herbst des gleichen Jahres ist er mit den Berliner Philharmonikern zu einer Tournee nach Japan gereist. Unter anderem mit einem konzertanten „Tristan“. Und da bot sich ein Dirigent an mitzufahren mit dem Argument: „Wenn Claudio Abbado am Nachmittag sagt, er kann aus gesundheitlichen Gründen am Abend nicht dirigieren, dann werde ich einspringen“ Er machte die ganze Reise mit und dirigierte kein einziges Mal - aber er war immer da! Dieser „Einspringer“ war Mariss Jansons.