Im Herbst 2019 unternahm das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit seinem Chefdirigenten Mariss Jansons eine Konzerttournee zu deren Stationen neben Wien, Köln, Paris und Antwerpen auch die New Yorker Carnegie Hall gehörte. Geplant waren zwei Konzerte, aber für das zweite musste Vasily Petrenko für Mariss Jansons einspringen. Für das Konzert am 08. November wählte Mariss Jansons Musik von Johannes Brahms und Richard Strauss. Noch im Januar 2019 hatte er gemeinsam mit der Sopranistin Diana Damrau dessen „Vier Letzte Lieder“ aufgenommen – auch sie standen an diesem Abend auf dem Programm. Die Solovioline spielte Anton Barakhowsky, der Konzertmeister des Orchesters. Mit ihm sprach der Musikjournalist Thomas Otto über jenes Konzert in New York, das Mariss Jansons’ letztes sein sollte und nun, gleichsam als sein Vermächtnis, veröffentlicht wird.
Herr Barakhowsky, welche Erinnerungen haben Sie an den Abend, an dem diese Aufnahme entstand, wie haben Sie ihn erlebt?
Es gab eine Anspielprobe, die statt 45 Minuten auf eine Stunde angesetzt wurde. Und wie üblich haben Herr Jansons und ich uns kurz vor der Probe gesehen. Er war ermutigend frisch und war in guter Stimmung vor diesem wichtigen Konzert, dem Abschlusskonzert unser Tour. Er hat einige Stellen und Übergänge probiert, wie üblich, eine ganz normale Probe. Er sagte, wie er das oft bei solchen Anlässen sagte: „Bitte sparen Sie! Sie müssen noch nicht alles geben. Weil der Abend noch bevorsteht.“ Eigentlich eine ganz normale Probe, wie wir sie schon zigmal erlebt haben...
...und dann kam das Konzert...
... das wir sehr schwungvoll begonnen haben, mit den Vier Symphonischen Zwischenspielen aus der Oper „Intermezzo“ von Richard Strauss – Maestro Janson, wie üblich mit viel Engagement und Feuer. Aber ich merkte nach einigen Minuten, dass irgendetwas nicht stimmte. Er war zwar sehr emotionell, aber er wirkte irgendwie auch gebremst, ein bisschen wie ein Film in Zeitlupe. Nach den „Intermezzo“-Zwischenspielen kamen die „Vier letzten Lieder“. Er sah zwischen den Liedern länger zu Boden, und es war deutlich zu sehen, dass seine Kräfte und seine Konzentration nachließen, wie schwer es ihm fiel, die Hände über dem Notenpult hochzuhalten. Wissen Sie, ich kannte Herrn Jansons seit fast 14 Jahren – er hat immer 100, 150, 200 % gegeben, wenn seine Kräfte es zuließen. Aber an diesem Abend hat man einen richtigen Kampf gegen sich selbst erlebt, bei dem er nach bestem Willen alles geben wollte. Auf gar keinen Fall wollte er zeigen, dass es ihm schlecht geht. Er hat zwischendurch auch mal gelächelt. Aber wissen Sie, das war eigentlich nur eine Geste, als wollte er dem Orchester sagen: „Es ist alles in Ordnung. Machen Sie sich keine Sorgen! Es wird schon!“
Aber nach dem enorm anstrengenden Strauss im ersten Konzertteil hatten Sie noch Brahms Vierte vor sich.
In der Pause wurde ich in das Dirigentenzimmer gerufen. Als ich eintrat, sah ich Herrn Jansons am Tisch sitzen, völlig erschöpft. Er sah unglaublich müde und sehr blass aus. Ich hatte dann eine kurze Unterhaltung mit unserem Manager Nikolaus Pont und mit Clive Gillinson, dem Musikdirektor der Carnegie Hall. Die beiden haben mich gebeten, mit Herrn Jansons zu sprechen und ihn zu überreden, das Konzert abzubrechen. Wir sprachen wie immer Russisch miteinander. Ich sagte zu ihm: „Herr Jansons, bitte, wir müssen jetzt nicht weiterspielen! Lassen Sie uns jetzt abbrechen. Morgen haben wir auch noch ein Konzert.“ Und er saß dort und sagte: „Nein, nein, nein, das lehne ich kategorisch ab! Geben Sie mir ein bisschen Zeit, dann machen weiter.“ Wissen Sie, ich erinnere mich an eine Probe kurz vor dem Start unserer Tournee. Da ging es Maestro Jansons von einem Tag auf den anderen auch nicht gut. Die Kollegen hatten mich gebeten, ihn zu überreden, während der Probe auf einem Kontrabasshocker im Sitzen zu dirigieren. Ich habe es versucht, während wir vom Dirigentenzimmer zur Bühne liefen. Da blieb er stehen, sah mich ganz streng und sagte mit gehobener Stimme zu mir: „Anton, ich komme aus einer Dirigentenfamilie. Und vor einem Orchester zu sitzen ist absolut respektlos!“ Da habe ich aufgegeben. Es war also ganz klar, dass wir auch hier, in New York, weitermachen würden. Er würde auf jeden Fall versuchen, auf die Bühne zu kommen. Kein Mensch auf der Erde würde ihn überreden können, aufzuhören. Natürlich waren wir beim Musizieren dann sehr angespannt, weil wir uns Sorgen machten. Wir haben diese Sinfonie zu Ende gespielt, und sie wurde vom Publikum großartig aufgenommen, es gab großen Jubel. Nach dem dritten Applaus standen wir nebeneinander und er sagte zu mir: „Na, da spielen wir jetzt die Zugabe.“ Ich traute meinen Ohren nicht. Ich sagte zu ihm: „Herr Jansons, ich werde das Orchester von der Bühne entlassen. Wir gehen jetzt. Wir werden jetzt gar nichts mehr spielen.“ Und wissen Sie, was dann von Herrn Jansons kam? Er drehte sich zu mir und fragte: „Und warum nicht?“ Dann hat er wieder gelächelt, so wie er es immer machte und sagte: „Na, bleiben Sie mal kurz stehen. Ich komme noch mal.“ Herr Jansons kam wieder, und was machte er? Er stieg aufs Dirigentenpult, hob seine Hände und wir spielten die Zugabe: Brahms, Ungarischer Tanz Nummer fünf. Und wieder zeigte sich: Was er sich in den Kopf gesetzt hatte, zog er durch - eigensinnig bis zum Schluss. Das waren meine stärksten Erinnerungen an dieses Konzert. Danach habe ich ihn noch kurz gesehen, aber da war er schon in der Betreuung durch einen Arzt und wir konnten leider, leider nicht mehr miteinander reden. Tatsächlich ging es ihm am nächsten Tag besser. Er wollte auch sofort aus dem Krankenhaus. Natürlich hat man ihm nicht erlaubt, das Konzert dirigieren. Aber ich glaube, er hätte es gemacht.
Lassen Sie uns bitte noch über die Arbeitsweise von Mariss Jansons sprechen. Wie hat er das Orchester motiviert? War er mehr der „Orchestererzieher“ oder jemand, der es „laufen ließ“ in dem Bewusstsein, ein hochqualifiziertes Orchester vor sich zu haben?
Seit seinen ersten Jahren hat Mariss Jansons unglaublich präzise mit dem Orchester gearbeitet. Er wusste immer 100%ig, was er wollte. Wenn Sie seine Partituren gesehen hätten, das Titelblatt zum Beispiel oder die erste Umschlagseite – alles war voller Bleistiftnotizen und so sah jede Partitur aus, ganz egal, von welchem Stück. Er war immer auf der Suche nach den Quellen, nach der Geschichte des Stücks, nach der Wahrheit. Ja, er war ein Erzieher – der Dirigent muss ein Orchestererzieher sein. Wenn Sie einen perfekten Klangkörper bauen wollen, dann müssen Sie an der einen oder anderen Stelle immer tiefer bohren und nie damit aufhören. Deswegen habe ich ihn in meinen ersten Jahren auch als Orchester-Erzieher empfunden. Und ich spürte, das hat dem Orchester wahnsinnig gut getan. Er hat immer einen unglaublichen Wert darauf gelegt, dass wir einander hören, dass wir die Musik miteinander machen. Es gibt diesen berühmten Satz von ihm: „Warum gucken Sie auf mich? Hören Sie! Hören Sie, was Sie spielen und dann kommt das schon zusammen.“ Und jeder konnte in den Proben seinen Finger oder seinen Bogen heben und sagen: „Herr Jansons, können wir diese Stelle bitte noch mal machen?“ Ich habe ihn vor einer Probe mal gebeten, uns Streichern an einer bestimmten Stelle, einem schwierigen Einsatz, ein besonderes Zeichen zu geben. Da hat mich angesehen und gesagt: „Anton, das gebe ich Ihnen gern. Glauben Sie mir, ein Zeichen zu geben ist viel leichter, als Geige zu spielen!“ Und immer, wenn wir dann im Konzert an diese Stelle kamen, hat er danach zu mir herüber gesehen und mit dem Auge gezwinkert, so nach dem Motto: „Na, hab’ ich doch gesagt. Versprochen – gehalten!“