
„Raum“
EDEL / KSCOPE
Tangerine Dream sind seit über 50 Jahren ein Grundpfeiler elektronischer Musik in Deutschland, gleichzeitig gehören sie mit einer jungen Besetzung zu den großen Überraschungen der letzten Jahre. Edgar Froese, legendärer Bandgründer und letztes Mitglied der Urbesetzung von Tangerine Dream, verstarb im Jahr 2015, ein Umstand, den er selbst in seiner gelassenen Art als „Wechsel der kosmischen Adresse“ bezeichnete. Den drei jüngeren Bandmitgliedern Thorsten Quaeschning (als musikalischem Direktor), Hoshiko Yamane und Ulrich Schnauss übertrug er seinen Wunsch, die musikalische Mission unter Beibehaltung des Bandnamens fortzusetzen. Gemeinsam mit Edgar Froese hatten die Musiker bereits einen Weg eingeschlagen, der sowohl zu den musikalischen Ursprüngen von Tangerine Dream zurückführen als auch neue musikalische Dimensionen erschließen sollte. Das verbliebene Trio veröffentlichte 2016 sein erstes Studioalbum „Quantum Gate“, ein Werk, das auch den letzten Skeptiker von der Qualität und visionären Kraft der jungen Band überzeugen kann. Das Erbe der „Kosmischen Musik“ vereint sich darauf harmonisch mit zeitgenössischen Spielarten avancierter Electronica und verbindet das Tiefgründige mit sprühender Verve und großer Wärme.
Eine Reihe von überwiegend live entstandenen Aufnahmen, die entweder komplett improvisierte Sessions oder neue Interpretationen alter Tangerine Dream Klassiker enthalten, wurden seitdem veröffentlicht. Nach nunmehr sechs Jahren erscheint mit „Raum“ wieder ein reines Studioalbum, pandemiebedingt entstanden in einer Phase ohne Konzerte. Entsprechend wurde die komplex arrangierte Musik nicht entwickelt, um live reproduzierbar zu sein, sondern um filigran den musikalischen Standort auszuleuchten, an dem Tangerine Dream sich aktuell befinden. Der Sound der Band hat durch den Zugang von Paul Frick mehr Minimal Music Prägung erhalten, was das Klangbild der Gruppe sinnvoll bereichert und noch transparenter macht. Der Album-Titel „Raum“ korrespondiert dabei auffallend mit „Zeit“, dem mythischen LP-Klassiker der Band von 1972.
Die sieben Kompositionen auf dem neuen Werk öffnen im wahrsten Sinne innere Räume, sodass es sich anfühlt, als sei man in aufregender Weise weit gereist, wenn der letzte Ton des Albums mit Hoshiko Yamanes zarter Geige verklungen ist. Musik voller souveräner Spannungsbögen und fließender Sequencer-Ströme, daraus empor sprießend Melodien, die tief berühren und gekonnt das Triviale meiden. Wer Tangerine Dream aus den vergangenen Jahrzehnten kennt, wird erstaunt sein, wie stark sich diese Band entwickelt hat. Wer als Novize in Sachen elektronischer Musik hinzustößt, wird in einen unbekannten, faszinierend tiefen Raum geführt, eine Zone, die musikalische Geschichte und klingende Zukunft zugleich verkörpert.
Thiemo Brüll